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Abschied „Wir haben unser Frühchen gehen lassen“

Frühchen - Lebensfähigkeit
© benkayam / iStock
In der 24. Schwangerschaftswoche lässt sich die Geburt nicht mehr aufhalten. Sollen wir das Kind intensivmedizinisch behandeln?, fragen die Ärzte. Oder nicht? Die Geschichte einer Entscheidung. Und wie es weiterging.

Wenn man eben noch einen dicken Bauch hatte und dann zurück zur Arbeit kommt, wieder schlank, provoziert das natürlich. Manche sprechen einen direkt an, andere warten erst mal ab. Es waren vor allem diese Gerüchte, unser Baby sei krank gewesen, die mich immer wieder den ersten Schritt machen ließen.

Denn das stimmte nicht. Enno war gesund, absolut perfekt und wunderschön. Aber er hätte noch Zeit gebraucht, hör ich mich sagen. Ich hätte es mir auch leicht machen können. Von einer Totgeburt sprechen zum Beispiel.
So aber ging das Fragen weiter. Hat er gelebt? Ja, hat er, vier Minuten lang. Dann haben wir ihn seinen Weg gehen lassen, sagte ich.

Keine intensivmedizinischen Maßnahmen

Mein Mann und ich waren uns einig und haben unsere Entscheidung bis heute, acht Jahre danach, nicht eine Sekunde bereut. Kaum einer, der unsere Geschichte kennt, scheint uns zu verstehen.
„Das hätte ich nicht fertiggebracht“, sagten die Kolleginnen. Als hätten wir unser Liebstes leichtfertig aufgegeben. Ja, es stimmt, es gibt Kinder, die wie Enno in der 24. Woche geboren wurden und leben. Etwa die Hälfte schafft es, sagt die Statistik.
Viele von ihnen sind behindert – das sagt sie außerdem.
Ach so, ihr wolltet also nur dann ein Kind, wenn es gesund ist? Tatsächlich gab es zumindest Blicke in diese Richtung. Blödsinn. Uns Eitelkeit zu unterstellen, statt zu sehen, dass es uns vor allem um eines ging: darum, unseren kleinen Sohn nicht leiden zu lassen. Ihm nicht ein Leben mit zahllosen Einschränkungen zuzumuten.

Wann ist mütterliche Liebe wirklich selbstlos? Und wo schwingt heimlich das Ego mit? Für mich sind solche Fragen wichtig und auch, dass jeder sie selbst beantworten darf. Statt so zu tun, als machte es sich hier irgendjemand leicht.
Natürlich hätte das Herz es gern anders gehabt. Natürlich war es furchtbar, diesen wunderschönen, für uns so völlig perfekten kleinen Kerl nach den zwei Tagen, die wir ihn nach seinem Tod noch bei uns haben durften, herzugeben.
Dass manch einer bei uns eher Schuldgefühle angebracht fand als Trauer, zeigt, wie der medizinische Machbarkeitswahn wirkt. Den wenigsten, die schnell mit Kommentaren bei der Hand sind, scheint bewusst, dass erst der medizinische Fortschritt uns überhaupt in diese schwierige Situation gebracht hat.

Vor 20 Jahren hätte man Ennos Tod schlicht Schicksal genannt. Jetzt, wo Babys immer früher künstlich am Leben gehalten werden, ist da immer die Frage: Wieso habt ihr es nicht wenigstens versucht?
 

Nüchternes Abwägen

FÜR UND WIDER: „Eltern haben das Recht, einer ärztlich indizierten intensiv-medizinischen Behandlung des Kindes zuzustimmen oder sie abzulehnen“ (aus den Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften).

Lange war ich wütend. Auf die, die alles besser zu wissen glaubten, und auch auf die Welt, die sich von jetzt auf gleich so verändert hatte. Am schlimmsten war das Heimkommen aus der Klinik. Kinderbett und Kinderwagen warteten, alles war aufs Mama­Sein programmiert.
Er könnte noch hier sein – natürlich gab es sie, die Momente, in denen die Fantasie mit mir durchging. Immer mit Bildern eines gesunden Kindes allerdings. Der Verstand weiß um den Selbstbetrug. Weiß von entfernten Bekannten, die ein Jahr vor Enno Zwillinge bekamen, in der 25. Woche. Das Mädchen ist drei Tage nach der Geburt gestorben, der Junge jetzt schwerstbehindert. Den Eltern geht es schlecht, sie verlassen das Haus kaum noch.
Möglich, dass ich aus diesem Wissen heraus im entscheidenden Moment nicht weichgezeichnet habe, was im Zusammenhang mit behinderten Kindern ja auch getan wird – etwa, wenn viel von Bereicherung die Rede ist und wenig davon, dass ein Großteil der Partnerschaften um diese Kinder zerbricht.
 

Initiative REGENBOGEN „Glücklose Schwangerschaft“ e.V. Kontaktkreis für Eltern, die ihr Kind vor, während oder kurz nach der Geburt verloren haben: www.initiative-regenbogen.de

Möglich auch, dass mein Beruf – ich bin Krankenschwester – für eine eher nüchterne Einschätzung der Situation gesorgt hat.
Dankbar bin ich für die vielen Aufzeichnungen vor allem zu Beginn meiner Schwangerschaft. Alles hab ich genau dokumentiert: den ersten Herzschlag. Die Bestimmung des Geschlechts. Aber auch dass ich bereits um die 16. Woche immer wieder einen harten Bauch bekommen habe. Auf den Job schob ich die heftiger werdenden Kontraktionen, auf die unregelmäßigen Arbeitszeiten und den wiederkehrenden Adrenalinkick – ich arbeitete damals in der Notfallambulanz.

Die vom Arzt verordnete Schonung aber brachte keine Besserung. Und dann, in der 22. Woche, hatte ich nachts eine Blutung – für die sich in der Klinik allerdings keine Ursache finden ließ. Dem Kind würde es gut gehen, sein Herz schlüge regelmäßig. Ich bräuchte Ruhe, hieß es, ich solle ein paar Tage bleiben. Und dass all das, was nun passiere, rein als Vorsichtsmaßnahme zu sehen sei.
Meine Blutgruppe wurde bestimmt, Blutkonserven wurden bestellt. Schließlich kam eine Kinderärztin und erklärte meinem Mann und mir, wie Frühgeborene versorgt werden – „just in case“. Man sieht dann die dünnen Beatmungsschläuche, die winzig kleine Blutdruckmanschette. Lässt den Blick aber schon im nächsten Moment zum Strampler wandern, den meine Mutter mitgebracht hatte und der über einer Stuhllehne hing. Alles wird gut, steht in meinem Tagebuch. Und dass man mich schließlich mit den Worten, ich solle weiter liegen, entlassen hat. Aber schon am anderen Tag blutete ich erneut, obwohl ich mich kaum von der Couch wegbewegt hatte.

Unfertig wirken die Notizen der nächsten beiden Tage vor Ennos Geburt – bis ein paar Seiten weiter in meinem Notizbüchlein dann eine leere Seite kommt ... Ich beschreibe, wie ich im Kreißsaal liege, zur Überwachung. Ständig werde ich untersucht. Die Gesichter der Hebammen und Schwestern scheinen sich nicht festlegen zu wollen: Mal scheinen sie nach einem CTG oder Ultraschall von Sorge zu erzählen, dann wieder von Zuversicht. Vieles ist unklar: Mein Bauch wird in regelmäßigen Abständen hart, am Wehenschreiber aber ist nichts zu sehen. Einen auf anderthalb Zentimeter verkürzten Muttermund habe ich. Aber: „Es gibt Schwangere, die haben so was wochenlang“, meint eine Hebamme.
Es ist dieselbe, die gesagt hat, es wäre gut, ich hätte jetzt jemand Vertrautes um mich. Tom, mein Mann, ist Pilot bei der Luftrettung und fliegt – ausgerechnet jetzt. Im Bett, das eigentlich für ihn bereitgestellt ist, liegt dann meine Freundin Agnes.
Gemeinsam schauen wir nach vorn, zeichnen Bilder. Die Großfamilie, die ich mir immer gewünscht habe. Gedanken können ein Bollwerk sein. Bis die Kontraktionen zu heftig werden, um sich weiter Schönes auszumalen.
 

Wer setzt solche Grenzen?

Ich rechne. 23 + 6 bin ich, es ist sechs Uhr abends. In sechs Stunden bin ich 24 + 0. Ab 24 + 0 bekommen Schwangere bei drohender Frühgeburt die Lungenreife gespritzt. Auch intravenöse Wehenhemmer können jetzt gegeben werden. Ob Enno mit einer ausgereifteren Atmung und wenn die Geburt noch zwei, drei Tage aufgehalten worden wäre, eher eine Chance gehabt hätte? Klar gab es diesen Gedanken, später.

Um 22.20 Uhr wird er geboren, am 2.2. – eine magische Zahl. „24 + 0, das ist die Grenze, vorher machen wir nichts“, höre ich noch den Arzt. Der Kopf will verstehen. Irgendwo muss die Grenze ja gesetzt werden. Aber warum gerade hier? Überlegungen, die umtreiben. Bis der Schmerz so heftig wird, dass man keinen klaren Gedanken mehr fassen kann. Über Funk erreichen wir Tom. Als er kommt, etwa um sieben, hat eine Ärztin mir gerade eine PDA gelegt – ich konnte nicht mehr. Später, wenn ich versucht habe, den Schmerz zu beschreiben, und dann hörte, was andere Mütter über ihre Geburten erzählten, hab ich mir oft gedacht: Das waren mehr als nur Wehen bei mir. Nicht nur der Bauch hat sich zusammengezogen, auch das Herz. Weil es nicht dieses Hinarbeiten zum Kind war, wie sonst? Eher der Beginn einer Trennung, gegen die ein Teil von mir sich mit aller Kraft zu wehren versuchte?

Tatsächlich dreht die Mutter in mir bis heute fast durch, wenn sie daran denkt, wie wir entschieden haben, Tom und ich. Sie rebelliert, wenn sie zurückdenkt und sieht, wie gefühlt zwei Duzend Ärzte um unsere Betten stehen. Der genaue Verlauf des Gesprächs ist mir entfallen, eher eine Art ruhigen Klangteppich erinnere ich und wie ich ihn dank der PDA auf mich wirken lassen kann und einzelne Fragmente für mich rausziehe.
Und dann steht sie plötzlich im Raum, die Frage, die sich laut Aussage der Ärzte ja nun stellen würde, nachdem die Geburt nicht mehr aufzuhalten sei ...
Ich sehe noch genau, wie Tom und ich uns anschauen. Alles ist gesagt. Einig sind wir uns, das zeigt schon sein Blick. Einig, als zwei „vom Fach“? Auch Tom fliegt immer wieder fürs Krankenhaus, hat bereits Frühchen geflogen, noch nie ein so frühes wie unseres allerdings.
Von einer 50­Prozent ­Chance des Überlebens haben die Kollegen gesprochen. Dann alle mögliche Komplikationen aufgezählt, die bei denen, die es schaffen würden, auftreten könnten. Erhebliche Behinderungen zum Teil. Nicht zu vergessen: „Je jünger die Frühgeborenen, desto höher ihre Schmerzexposition.“ Sagt ein Arzt so was auch, wenn er mit medizinischen Laien spricht: „Viele Behandlungen werden Ihrem Baby wehtun?“

Wusste die Frau davon, die im selben Krankenhaus nach uns Zwillinge in der 24. Woche entbunden hat?
Es heißt, sie und ihr Mann hätten die Ärzte gebeten, alles zu tun, um das Leben der Kinder zu retten. Die Ärzte seien diesem Wunsch nachgegangen, die Zwillinge seien nach wenigen Tagen gestorben. Wer wollte da werten? Es ist immer die Liebe, die mitentscheidet. Bei denen, die kämpfen. Und bei denen, die den mindestens ebenso Kräfte zehrenden Weg des Loslassens gehen.
Ich weiß noch, wie still es im Zimmer war, als Tom und ich dann wieder für uns waren. Und wie ich dann nach vielleicht 20 Minuten die Hebamme rief, weil ich spürte, dass der Druck im Bauch sich veränderte. „Ich will das nicht“, soll ich gesagt haben, während das Kind kam. Dabei war es eines der schönsten Gefühle, das ich je hatte, dann den winzigen warmen Körper an mich zu legen. Diese vier Minuten zu haben, die nach Versichern der Ärzte aller Wahrscheinlichkeit nach nicht schmerzhaft und qualvoll für Enno waren.
Fotografiert haben wir unser Kind. Hand­ und Fußabdrücke gemacht. Unsagbar wertvoll sind die anderthalb Tage, zwei Alben voller Fotos erzählen davon. Zeigen Enno in ein Kuscheltuch gewickelt. Enno in einem kleinen Bettchen. Enno, der genau Toms leicht abgeknickte Ohren hat.
Erst wollte ich die Trauerkarte nur mit Bildern der Hand­ und Fußabdrücke gestalten. Die Hebamme aber riet zu einem Foto, sagte, dieses Zeichen nach außen – er war da – würde es auch für uns begreifbarer machen. Nur eine einzige ablehnende Reaktion gab es, mag sein, dass andere sich ihren Teil gedacht haben.
 

Lebensfähigkeit

„Die Grenze der Lebensfähigkeit wird von Land zu Land unterschiedlich definiert. 24 + 0 – dieser Tag ist allen Leitlinien gemeinsam. Das heißt: Ab da werden Kinder in der Regel auch dann behandelt, wenn die Eltern es gern anders hätten. Davor gibt es eine Grauzone. In den USA liegt die bei 23 + 0 bis 24 + 6, in Deutschland bei 22 + 0 bis 23 + 6. In der Schweiz dagegen wird grundsätzlich erst zwischen 24 + 0 und 24 + 6 behandelt.“ (Prof. Dr. Christoph Bührer)
 

Herzförmige Gebärmutter

Über so etwas drüberzustehen, das hab ich lernen müssen. Ich weiß, das ist schwer nachvollziehbar – wenn ich einen solchen Satz voranstelle, gehen die Gespräche manchmal leichter.
Meine Wut ist über die Jahre weniger geworden. Sicher auch dank unserer zwei Töchter, die nach drei Fehlgeburten noch kamen. Ein Zufallsbefund ergab, dass ich eine herzförmige Gebärmutter habe, der Grund für meine instabilen Schwangerschaften. Dafür, dass auch Lea und Karen sieben und neun Wochen zu früh gekommen sind. Es war nicht einfach, sich trotz des Wissens um das Risiko wieder auf das Werden eines Kindes einzulassen.
Es war leichtsinnig – sicher sehen es manche auch so. Und dann gibt es die, die fragen: Wo wäre diesmal die Grenze für euch gewesen? Nach der 24. Woche? Der 30.? Ich weiß es nicht, sage ich dann. Man kann so was nicht planen. Es entscheidet immer der Mensch, der man gerade ist. Vielleicht auch: die Familie, die man ist. Ob Lea und Karen da wären, gäbe es Enno? Wohl eher nicht. Andersrum ist Enno für seine Schwestern ein fester Bestandteil der Familie. Die Urne mit seiner Asche im Regal ist den Mädchen fast heilig.
Zuweilen kam es schon zu Verwirrungen, wenn die Große im Kindergarten von ihrem Bruder erzählte, etwa, dass er heute Geburtstag hätte. Ich versuche dann, das Umfeld behutsam aufzuklären. So, dass meine Mädchen ihren Stolz behalten und wissen, dass wir eine Familie sind, in der auch die Toten ihren Platz haben. In der es keine Tabus gibt und schon gar nicht das Gefühl, das Leben wäre besser anders gelaufen. Schlecht geht’s mir nur, wenn ich abends mal vergesse, die Kerze neben Enno anzuzünden. Ich fürchte dann, er könnte meinen, ich vergesse ihn. Dabei ist er ein Teil von mir, wird es immer sein. Und um diesen Wunsch wissen sowohl Tom als auch die Kinder: Wenn ich einmal sterbe, soll meine Asche mit seiner zusammengebracht werden.
 

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