Bei der Behandlung extrem unreif geborener Kinder an der Grenze der Lebensfähigkeit kann durch intensivmedizinische Maßnahmen einem Teil der Kinder kurz- oder langfristig zum Überleben verholfen werden – unter Umständen aber unter Inkaufnahme erheblichen Leidens und lebenslanger körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen. Diese einander widerstreitenden Aspekte müssen bei der Entscheidungsfindung bestmöglich abgewogen und ausgehalten werden (aus den Leitlinien der ärztlichen Fachgesellschaften).
Der Fall, von dem hier berichtet wird, stammt aus der Schweiz. Das Kind wurde kurz vor der vollendeten 24. Schwangerschaftswoche geboren. Die Ärzte stellten die Eltern vor die Wahl: Sie sollten entscheiden, ob das Baby intensivmedizinisch behandelt wird – oder nicht. Sie ließen ihren Sohn Enno gehen, verzichteten schweren Herzens auf die Behandlung. Der Neonatologe Prof. Dr. Christoph Bührer von der Charité in Berlin erklärt das übliche Vorgehen in dieser Situation.
Was passiert, wenn ein Baby vor Ende der 24. Schwangerschaftswoche auf die Welt kommt
ELTERN: Stimmt es, das es in anderen Ländern diese Option gar nicht gegeben hätte? Hier würden Ärzte in diesem Stadium grundsätzlich nicht behandeln?
Tatsächlich ist die Grenze der Lebensfähigkeit unterschiedlich definiert. 24 + 0 – dieser Tag ist allen Leitlinien gemeinsam. Das heißt: Ab da werden Kinder in der Regel auch dann behandelt, wenn die Eltern es gern anders hätten. Davor gibt es eine Grauzone. In den USA zum Beispiel liegt die bei 23 + 0 bis 24 + 6, in Deutschland bei 22 + 0 bis 23 + 6. In der Schweiz dagegen wird grundsätzlich erst ab zwischen 24 + 0 und 24 + 6 behandelt.
In Deutschland hätte man Enno, wenn die Eltern es gewollt hätten, also in jedem Fall eine Chance gegeben, in der Schweiz handelte es sich möglicherweise um Stunden, die ausschlaggebend waren?
So ist es. Grundsätzlich orientieren sich die Länder an denselben international veröffentlichten Studien. Bewertet werden diese Studien aber kulturell sehr unterschiedlich. Wie steht man hier oder da zu Behinderungen? In Deutschland ist es weit schwieriger zu begründen, weshalb ein Kind nicht behandelt werden soll, da kommt schnell die braune Vergangenheit hoch.
Man kann sich kaum eine schwierigere Situation für Eltern vorstellen, als über Leben und Tod des eigenen Kindes entscheiden zu müssen. Aber auch für Ärzte ist es eine Herausforderung. Werden sie für solche Gespräche geschult?
Ärzte, die Neonatologen werden wollen, müssen nach der Ausbildung zum Kinderarzt eine dreijährige klinische Weiterbildung absolvieren, in der sie nicht nur lernen, Zugänge zu legen oder Kinder zu beatmen, sondern auch, schwierige Gespräche in Grenzsituationen zu führen.
Unabhängig von einer eigenen Haltung sollte der Arzt die Haltung der Eltern respektieren. Beziehungsweise ihnen Raum geben, diese überhaupt erst mal klarzukriegen. Jeder Mensch hat ein Wertesystem – die wenigsten jedoch können es ad hoc formulieren. Durch einfühlsames Fragen und Aufklären aber kristallisiert sich meist recht schnell heraus, in welche Richtung es weitergehen soll. Sagen Eltern etwa: Einen Test auf Trisomie 21 während der Schwangerschaft wollten wir nicht, zeigt das zumindest eine Tendenz. In der Regel sind die Beeinträchtigungen, die sehr früh geborene Frühchen im späteren Leben haben, geringer als bei Kinder mit Downsyndrom.
Die Ärzte sprachen gegenüber Ennos Eltern von erheblichen Behinderungen.
Tatsächlich steht es genauso in den Richtlinien. Man hätte hier vielleicht relativeren können, wollte andererseits aber auch nicht, dass der Eindruck entsteht, es würde bagatellisiert. Im aufklärenden Gespräch ist dann natürlich die Frage, wie solche Begrifflichkeiten kommuniziert werden. Und wie es im Gespräch dann weitergeht. Möglich, dass Eltern, die von „erheblichen Behinderungen“ hören, wie blockiert sind, die Situation viel drastischer sehen, als sie vielleicht ist. Hier ist auf ärztlicher Seite viel Fingerspitzengefühl gefragt.
Fakt ist: Frühgeborene mit einem Gestationsalter von 23 Wochen, die lebenserhaltend versorgt werden, haben eine Überlebenswahrscheinlichkeit von rund 50 Prozent. Fakt ist auch: Die Entwicklung derer, die es schaffen, verläuft langsamer als bei anderen Kindern. Etwa die Hälfte hat später Schwierigkeiten in der Schule, sie schaffen nicht die Bildungsabschlüsse, die sie vermutlich erlangt hätten, wären sie am Termin auf die Welt gekommen. Schwere Behinderungen wie spastische Lähmungen aber sind eher selten, kommen bei drei bis fünf Prozent vor. Was die Medizin „erheblich“ nennt, kann für eine Mutter eher marginal sein.
Noch mal Stichwort Spastiken: Da gibt es Kinder, die sitzen im Rollstuhl, und solche, die laufen an Krücken. Ist das eine erhebliche Behinderung, wenn ein Kind ein Leben lang nicht Fußball spielen oder tanzen kann? Eine Frage, die nur individuell beantwortet werden kann.
Ennos Mama sagt, sie hätte ihrem Kind Schmerzen und Leid ersparen wollen. Bereits die Behandlungen auf der Intensivstation seien schmerzhaft fürs Kind, haben die Ärzte ihr gesagt.
Möglich, dass die Ärzte sich im dargestellten Fall auf ältere Studien berufen haben. Inzwischen hat sich hier viel getan: Schmerzen zu vermeiden und zu behandeln, ist eines der zentralen Anliegen der modernen neonatologischen Intensivmedizin. Da wo Frühgeborene vor Jahren noch mehrmals täglich gepikst wurden, wird der Sauerstoffgehalt des Blutes heute völlig schmerzfrei über Sensoren gemessen.
Die Eltern von Enno haben ihre Entscheidung vor zehn Jahren treffen müssen. Damals war der Wissensstand gerade in der Schmerzbehandlung ein anderer als heute. Und auch sonst kann heute viel für ein sehr kleines Frühgeborenes getan werden. Die Allerkleinsten kuscheln stundenlang auf der Brust ihrer Mutter oder ihres Vaters, obwohl sie noch beatmet sind und teilweise über die Vene ernährt werden müssen, und fühlen sich dabei offensichtlich sehr wohl.
Wenn Sie Eltern all die Möglichkeiten und Entwicklungen im Aufklärungsgespräch schildern: Wie viele entscheiden sich gegen die Behandlung ihres viel zu früh geborenen Frühchens?
Ich kann da nicht für ganz Deutschland sprechen, nur für unsere Klinik. Ich würde sagen, ein Drittel sagt spontan: Tun Sie alles für unser Kind. Ein Drittel lehnt eine Behandlung ab. Ein letztes Drittel ist hin und hergerissen. Dieses Drittel ist für uns Ärzte eine Herausforderung. Hier müssen wir gut beraten, ohne zu manipulieren.
Ohne durchklingen zu lassen, wie Sie persönlich entscheiden würden?
Ganz ehrlich: Das wüsste ich auch nicht. Nicht aus der Theorie. Wir sollten vorsichtig sein mit vorschnellen Meinungen. Mit Meinungen von außen, ohne konkreten Bezug allemal.
Experte:
Prof. Dr. Christoph Bührer ist seit 2008 Direktor der Klinik für Neonatologie der Universitätsmedizin Berlin Charité. In die Charité kommen viele Mütter mit Frühgeburtsbestrebungen an der Grenze der Lebensfähigkeit, wo Eltern und Ärzte gemeinsam über das beste Vorgehen beraten. Ein anderer Schwerpunkt sind Neugeborene mit schweren Krankheiten, denen man dort vielleicht helfen kann.