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Obwohl beinahe jedes dritte Kind in Deutschland per Kaiserschnitt geboren wird, suchen sich die wenigsten Frauen diesen Geburtsmodus von vornherein aus. Viele sind sogar enttäuscht, wenn es dazu kommt – ob geplant aus medizinischen Gründen oder spontan im Verlauf der Geburt. Die Sorge: Die Glücksgefühle eines natürlichen Geburtserlebnisses blieben bei einem Kaiserschnitt auf der Strecke – was wiederum die Bindung zwischen Mutter und Kind erschweren würde.
Im Jahr 2008 befasste sich eine Gruppe Forschender daher mit der Frage, wie man die Entbindung durch die Bauchdecke sanfter gestalten und das Geburtserlebnis für Mutter, Kind und Begleitperson verbessern könne. Ausgehend von den Erkenntnissen dieser Untersuchung entschied sich Prof. Dr. Wolfgang Henrich – Klinikdirektor der Geburtsmedizin an der Berliner Charité – 2012 erstmalig dazu, bei einem Kaiserschnitt den Sichtschutz kurz zu senken. So hatten die Eltern freie Sicht auf die Geburt ihres Babys und die Kaisergeburt war erfunden! Die Idee dahinter: Ein Geburtserlebnis, das sich trotz Kaiserschnitt so weit wie möglich an die vaginale Geburt annähert –inklusive Glücksgefühle und direktem Hautkontakt.
Was ist eine Kaisergeburt?
Die Geburt im OP ist in den letzten Jahrzehnten immer schonender für Mutter und Kind geworden. Aber etwas ist in den meisten Krankenhäusern bisher unverändert geblieben: Die freie Sicht auf die Schnittentbindung wird den Eltern durch ein Tuch verwehrt – und so auch das Privileg des ersten Blickkontaktes mit ihrem Neugeborenen. Außerdem wird das Baby der Mutter nicht – wie bei einer vaginalen Geburt üblich – sofort auf die Brust gelegt. Auch wenn die Mutter nur eine Periduralanästhesie (PDA) hat, bekommt sie ihr Kind erst nach einiger Zeit – fertig abgenabelt und größtenteils schon von den anwesenden Hebammen in trockene Tücher gehüllt. Dabei ist das Bonding in den ersten Lebensminuten wichtig – für die Bindung und ein positives Geburtserlebnis.
Die Kaisergeburt will genau das ändern: Bei dieser Methode können die Eltern zuschauen, wie Arzt oder Ärztin das Baby aus dem Bauchraum heben. Danach darf es sofort zum Kuscheln auf die Brust der Mutter, wo es seine ersten Lebensminuten genießen kann. Der unvergleichliche Duft, die ersten innigen Blicke – all das gehört nur den Eltern. Und der Vater oder die Geburtsbegleitung darf sogar die Nabelschnur durchtrennen.
Wie läuft eine Kaisergeburt ab?
Wie beim normalen Kaiserschnitt wird auch bei der Kaisergeburt zunächst ein Sichtschutz gespannt, damit die Eltern nichts von der operativen Öffnung der Bauchdecke mitbekommen. Kurz bevor das Kind geboren – Mediziner:innen sagen entwickelt – wird, wird dieser Sichtschutz allerdings kurz weggenommen. So können die Eltern sehen, wie Arzt oder Ärztin das Köpfchen des Babys aus dem Bauch heben. Der Körper des Babys verbleibt dann noch kurz im Bauch der Mutter, so kann es sich etwas schonender an die Außenwelt gewöhnen. Und die Geburtshelfer können prüfen, ob das Kind fit ist oder eventuell Hilfe benötigt.
Im nächsten Schritt wird die Mutter zum Mitpressen eingeladen – fast wie bei einer natürlichen Entbindung. Ist das Baby dann ganz herausgehoben, wird es sofort auf die Brust der Mutter gelegt. Wenn der Vater oder die Geburtsbegleitung möchte, kann nun mit einer sterilen Schere die Nabelschnur durchgeschnitten werden. Danach wird der Sichtschutz wieder hochgezogen und die Wunde im Bauchraum verschlossen. Die Eltern können währenddessen die ersten Momente mit ihrem Kind genießen.
Wer ist für die Methode geeignet?
Eine Kaisergeburt eignet sich, wenn ein geplanter Kaiserschnitt oder ein Wunschkaiserschnitt durchgeführt wird. Also bei Schnittentbindungen, die zu einem festgelegten Termin erfolgen. Notkaiserschnitte, bei denen eine Vollnarkose nötig ist, können nicht als Kaisergeburt durchgeführt werden. Liegt allerdings nur eine Periduralanästhesie vor, kann die Methode auch bei einer sekundären Sectio – also einem ungeplanten Kaiserschnitt – in Erwägung gezogen werden. Vorausgesetzt, es geht Mutter und Kind gut und es liegt kein akuter medizinischer Notfall vor.
Wo kann man eine Kaisergeburt erleben?
Im Jahr 2012 in der Berliner Charité als Versuch gestartet, wird die Kaisergeburt heute in vielen Geburtskliniken angeboten. Aber noch längst nicht alle Krankenhäuser praktizieren diese Technik – und auch nicht alle Ärzte oder Ärztinnen. Wenn du eine Kaisergeburt planst, informiere dich im Vorfeld, welches Krankenhaus in deiner Nähe diese Option anbietet.
Interview: Das sagt der Experte zur Kaisergeburt
In Deutschland wurde die Kaisergeburt im Jahr 2012 in der Klinik für Geburtsmedizin an der Charité in Berlin eingeführt. Wir haben den Direktor der Klinik und Pionier der Methode, Prof. Wolfgang Henrich, nach seinen Erfahrungen gefragt.
ELTERN: Für wenkommt eine Kaisergeburt infrage?
Prof. Dr. Henrich: Wichtig ist erst einmal, dass die Eltern es wünschen und auch der Arzt dazu bereit ist. Dann ist es in vielen Fällen möglich. Aber natürlich nicht bei Notfällen, wenn die Frau eine Vollnarkose bekommt oder wenn Komplikationen bei der Mutter oder dem Kind zu erwarten sind.
Was ist, wenn die Eltern kein Blut sehen können?
Das müssen sie bei der Kaisergeburt auch gar nicht! Die meisten Menschen stellen sich einen Kaiserschnitt so vor, als würde ein riesiger Schnitt gemacht und die ganze Bauchhöhle offen liegen. Aber in Wirklichkeit ist der Schnitt nur zehn, zwölf Zentimeter lang, es ist kaum Blut zu sehen. Ganz abgesehen davon, dass die Mutter selbst wegen der Bauchwölbung die Wunde gar nicht sehen kann. Und wenn das Köpfchen des Babys auftaucht, haben die Eltern ohnehin keinen Blick mehr für irgendetwas anderes. Deshalb versichere ich den Eltern auch beim Vorbereitungsgespräch, dass sie nichts sehen werden, was sie nicht sehen wollen. Wichtig außerdem: Sie können sich auch noch unter der OP umentscheiden.
Und wie sind die Reaktionen der Eltern hinterher?
Alle, die es bisher gemacht haben, sind glücklich. Ich habe keine einzige Mutter, keinen einzigen Vater getroffen, die es bereut hätten. Ganz im Gegenteil, viele sind sehr froh. Eine Mutter, die vorher schon zwei normale Kaiserschnitte hatte, sagte: "Dieses Kind hatte einen völlig anderen Auftritt in der Welt als seine Geschwister!"
Es heißt, bei der Kaisergeburt können die Eltern ihrem Baby gleich ins Gesicht schauen. Aber die meisten Babys kommen in der vorderen Hinterhauptlage auf die Welt. Das müsste doch bedeuten, dass sie auch beim Kaiserschnitt mit dem Gesicht von der Mutter abgewandt aus dem Bauch kommen?
In die vordere Hinterhauptslage dreht sich das Baby erst während der Geburt. Ein Kaiserschnitt wird früher gemacht, da liegt das Kind meist noch mit dem Gesicht zur Seite. Bei der Kaisergeburt schiebe ich meine linke Hand unter das Köpfchen, hebe es an und drehe es dabei ein wenig in Richtung Mutter. So hat es den allerersten Blickkontakt mit ihr, nicht mit uns.
Bringt das Mitpressen dabei wirklich etwas? Oder dient es mehr dazu, der Mutter das Gefühl zu geben, dass sie aktiv mitarbeiten kann?
Ein bisschen mitschieben kann die Mutter so schon, aber es soll ihr auch das Gefühl geben, selbst etwas tun zu können. Und daran ist ja nichts Schlechtes.
Wenn die Methode so einfach ist, warum gibt es Kaisergeburten dann nicht schon viel länger? Ich glaube, die Geburtsmedizin hat sich beim Kaiserschnitt lange hinter übertriebenen Sicherheits- und Hygieneregeln abgeschottet. Aber eine Kaisergeburt ist nicht weniger sicher. Und Infektionen haben wir bisher auch keine gehabt.
Mahnende Stimmen sagen, dass die Möglichkeit der Kaisergeburt dazu führen könnte, dass sich mehr Frauen für einen Wunschkaiserschnitt entscheiden könnten, um sich die Mühen der Geburt zu ersparen. Was sagen Sie dazu?
Man kann doch den Frauen nicht immer Bequemlichkeit unterstellen! Das wird ihnen nicht gerecht, und den verantwortungsvollen Geburtshelfern auch nicht. Wir wollen mit der Kaisergeburt einfach nur die notwendigen Kaiserschnitte menschlicher gestalten.
Kann jede Entbindungsklinik eine Kaisergeburt durchführen?
Ja, jede Klinik, die bereit ist, sich über den Ablauf von Kaiserschnitten Gedanken zu machen.
Quellen:
- Interview Prof. Dr. Wolfgang Henrich
- Charité: Die Kaisergeburt, zuletzt aufgerufen am 01.06.2023.
- Henrich, Wolfgang et al.: The Charité cesarean birth: a family orientated approach of cesarean section; zuletzt aufgerufen am 01.06.2023.
- Fisk, Nicholas et al.: The natural caesarean: a woman-centred technique, zuletzt aufgerufen am 01.06.2023.