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Der Geburtsvorgang stockt und die anwesenden Geburtshelfer:innen entscheiden, dass sie deinem Baby bei seinem Weg auf die Welt etwas helfen müssen. Der Kristeller-Handgriff soll zum Einsatz kommen – was bedeutet das für dich? Im besten Fall, dass du über die geburtshilfliche Maßnahme aufgeklärt wirst und vor der Anwendung dein Einverständnis gibst. Im schlimmsten Fall drückt eine Person plötzlich kräftig auf deinen Bauch, ohne, dass du weißt, was hier genau passiert oder die Risiken kennst. Zurück bleibt dann möglicherweise das Gefühl, unter der Geburt Gewalt erfahren zu haben. Obwohl die WHO sowie medizinische Fachgesellschaften den Handgriff kritisch sehen und vor dem Verletzungsrisiko warnen, ist er weltweit noch immer sehr beliebt. Vielleicht auch deshalb, weil viele Frauen nicht wissen, dass sie Maßnahmen unter der Geburt auch ablehnen dürfen.
Hier erfährst du, wie der Kristeller-Handgriff funktioniert, wann er zum Einsatz kommt und welche Verletzungsrisiken er birgt.
Was ist der Kristeller-Handgriff?
Der Kristeller-Handgriff ist eine geburtshilfliche Methode, mit der durch manuellen Druck auf den Bauch der Schwangeren die Geburt vorangetrieben werden soll. Benannt ist der Handgriff – auch Kristeller-Manöver, Fundusdruck oder kristellern genannt – nach seinem Erfinder, dem deutsch-jüdischen Gynäkologen Samuel Kristeller. Ziel der geburtshilflichen Maßnahme ist es, den Kopfaustritt des Babys in der Austreibungsphase der Geburt zu beschleunigen.
Lese-Tipp: Geburtsphasen – lies hier mehr über die Austreibungsphase und die anderen Phasen des Geburtsvorgangs.
Wie funktioniert der Kristeller-Handgriff?
Hebamme, Geburtshelfer, Arzt oder Ärztin stehen neben dir und üben synchron zu den Austreibungswehen bzw. Presswehen einen langsam ansteigenden, intensiven Druck auf deinen Fundus uteri aus – das ist der höchste Punkt deiner Gebärmutter an deinem Oberbauch. So soll das Köpfchen deines Kindes aus dem Geburtskanal durch den Beckenausgang herausgeschoben werden.
Im Idealfall wird das Manöver folgendermaßen umgesetzt:
- Du wirst über die bevorstehende Maßnahme aufgeklärt und es wird nach deinem Einverständnis gefragt.
- Dann begibst du dich in eine halbsitzende Position, lehnst dich etwa an die aufgestellte Rückenlehne des Kreißbettes.
- Hebamme, Arzt oder Ärztin stehen nun neben dir, seitlich am Kopfende und eventuell leicht erhöht auf einem Hocker.
- Nun wird dein Fundus uteri mit flachen, aufgelegten Händen ertastet.
- Sobald die Wehe beginnt, schieben die Geburtshelfer:innen dein Kind mit ihren Händen in Richtung Beckenausgang. Wichtig dabei ist, dass dies während einer Austreibungswehe bzw. Presswehe passiert und du dabei aktiv mitschiebst. Ohne Wehen oder deine Mithilfe ist der Kristeller-Handgriff ineffektiv und schmerzhaft.
Es kommt allerdings vor, dass der Kristeller-Handgriff falsch angewandt wird: Dann legen die Geburtshelfer:innen nicht ihre Hände, sondern ihren ganzen Unterarm auf den Oberbauch der gebärenden Frau. So lässt sich zwar mit weniger Kraftaufwand mehr Druck erzeugen, doch ist die Unterarm-Technik schmerzhaft und zudem risikoreicher.
Wann wird der Handgriff eingesetzt?
Der Kristeller-Handgriff kann zum Einsatz kommen, wenn die Geburt ins Stocken gerät oder das Kind schnell geboren werden soll. Die Gründe hierfür können verschiedene sein:
- Fetaler Distress: Wenn es deinem Baby unter der Geburt nicht gut geht und es schnell geboren werden soll, etwa bei Sauerstoffmangel oder abfallenden Herztönen.
- Unwirksames Pressen: Wenn die Mutter aufgrund von Erschöpfung, einer Rektusdiastase oder durch die PDA nicht effektiv mitpressen kann und es zu einem Geburtsstillstand kommt.
- Vaginal-operative Entbindungen: Wenn dein Baby mittels Saugglocke oder Geburtszange geboren werden soll, wird das Kristellern häufig unterstützend von einer Hebamme angewandt.
- Kopfgeburt bei Beckenendlage: Wenn der Kopf deines Babys bei einer Geburt aus Beckenendlage nur durch Unterstützung geboren werden kann, kommt möglicherweise der Kristeller-Handgriff zum Einsatz.
Bevor der Kristeller-Handgriff jedoch in Erwägung gezogen werden kann, müssen bestimmte Voraussetzungen erfüllt sein: Dein Muttermund ist vollständig eröffnet, du hast effektive Geburtswehen und der Kopf deines Babys ist kurz vor dem Austritt – also sichtbar.
Wann kann der Kristeller-Handgriff nicht eingesetzt werden?
Es gibt Gründe, die absolut oder relativ gegen die Anwendung der Methode sprechen – die sogenannten Kontraindikationen. Bei relativen Kontraindikationen muss abgewogen werden, ob der Nutzen des Kristeller-Handgriffs das Risiko der Anwendung überwiegt.
Folgende Gründe sprechen gegen die Anwendung:
- Keine Wehen: Der Kristeller-Handgriff soll unterstützend wirken, kann aber das Mitschieben der Mutter während den Wehen nicht ersetzen.
- Fundusplazenta: Liegt deine Plazenta am oberen Rand deiner Gebärmutter (Fundus), könnte es durch den plötzlichen Druck von außen zu einer Plazentaablösung kommen.
- Wehensturm und drohende Uterusruptur: Hast du einen Wehensturm, also starke Kontraktionen ohne Pause, oder droht deine Gebärmutter zu reißen, kann der Kristeller-Handgriff zu riskant sein.
- Nach Operationen, wie einem Kaiserschnitt: Nach einem Kaiserschnitt oder anderen Operationen an deiner Gebärmutter besteht ein erhöhtes Risiko für eine Uterusruptur entlang der Narbe.
- Schulterdystokie: Hängt dein Baby mit seinen Schultern hinter deinem Schambein fest, kann der Kristeller-Handgriff zu schweren Verletzungen führen.
Mögliche Folgen und Risiken: Warum ist der Kristeller-Handgriff umstritten?
Führende medizinische Fachgesellschaften wie die Deutsche Gesellschaft für Geburtshilfe und Gynäkologie haben in ihrer Leitlinie zur vaginalen Geburt festgehalten, dass der Fundusdruck möglichst nicht ausgeübt werden soll. Und auch die WHO empfahl bereits 2018, die Methode in der Geburtshilfe nicht mehr anzuwenden und warnt vor Verletzungen durch das Kristellern. Es sei mehr Forschung nötig, um die gesundheitlichen Risiken für Mutter und Kind gegenüber dem möglichen Nutzen besser abwägen zu können.
Vor allem bei vaginal-operativen Geburten etwa durch eine Saugglocke oder Geburtszange sowie bei abfallenden Herztönen des Babys könnten die möglichen Nachteile den Vorteil der schnelleren Kopfgeburt aufwiegen. Denn durch den Kristeller-Handgriff kann es aufgrund des plötzlichen Drucks auf den kindlichen Kopf zu einer sogenannten Reflexbradykardie kommen, bei dem der Blutdruck und die Herzfrequenz plötzlich abfallen. Ebenso besteht das Risiko einer Sauerstoffunterversorgung des Babys, wenn die Plazenta durch den äußerlich ausgeübten Druck schlechter durchblutet wird oder es zu einer vorzeitigen Plazentaablösung kommt.
Weitere mögliche Risiken für die Mutter sind:
- starke Schmerzen und traumatisches Geburtserlebnis
- Rippenbrüche oder -prellungen, Hämatome
- schwere Schädigung des Beckenbodens
- schwere Geburtsverletzungen wie Dammriss 3. oder 4. Grades oder Scheidenriss
- sehr selten: Fruchtwasserembolie, Uterusruptur, Milz- oder Leberruptur
Weitere mögliche Risiken für das Kind sind:
- neurologische Schädigung des Hirns, durch zu starken Druck auf Kopf und Halsbereich
- Armlähmungen und Verletzungen, Schulterdystokie
Trotz aller Risiken und Warnungen findet der Kristeller-Handgriff in der Geburtshilfe noch immer Anwendung – auch, weil viele Frauen nicht wissen, dass sie die Prozedur ablehnen dürfen und ein Veto-Recht haben. Wenn es schnell gehen muss, bleibt sicher nicht immer Zeit, um vorher das Einverständnis der Mutter einzuholen – doch sollte der Kristeller-Handgriff nicht gegen deinen Willen eingesetzt werden. Um dem vorzubeugen, kannst du in einem Geburtsplan oder auch schon bei der Geburtsanmeldung im Krankenhaus festhalten, dass du diese Maßnahme für dich ablehnst. Entscheidest du dich im Geburtsverlauf um, kannst du diese Haltung natürlich revidieren. Denn letztlich musst auch du abwägen: nimmst du die Risiken des Handgriffes in Kauf oder gehst du ein anderes ein, indem die Geburt ohne die Maßnahme vielleicht noch etwas länger dauert.
Lesetipp: Dammriss, Labienriss, Dammschnitt und Co. – lies hier mehr zum Thema Geburtsverletzungen!
Quellen:
- Hofmeyr, Justus et al.: Fundal pressure during the second stage of labour, zuletzt aufgerufen am 22.06.2023.
- World Health Organization: WHO recommendations: intrapartum care for a positive childbirth experience, zuletzt aufgerufen am 22.06.2023.
- Ramsayer, Beate: Dimensionen der geburtshilflichen Gewalt, in: Deutsche Hebammen Zeitschrift, zuletzt aufgerufen am 22.06.2023.
- Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung: Aufklärungspflicht über medizinische Eingriffe, zuletzt abgerufen am 22.06.2023.
- Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Fachgesellschaften e.V. (AWMF): S3-Leitlinie Die vaginale Geburt am Termin, zuletzt aufgerufen am 09.06.2023.
- Stiefel, Andrea et al. (Hrsg.): Hebammenkunde: Lehrbuch für Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Beruf, 5. Auflage, Hippokrates Verlag, Stuttgart 2013.