Schwangerschaft und Esstörung - ein Tabuthema?
Schwangerschaft und Essstörung - das ist leider keine so seltene Kombination, wie man denken möchte. Umso wichtiger ist es, bei diesem sensiblen Thema Bescheid zu wissen. Deshalb lassen wir eine Betroffene über ihre Schwangerschaft und ihre Essstörung berichten und befragen einen Experten zu diesem Thema.
Wo bekomme ich weitere Infos zum Thema "Schwangerschaft und Essstörung"?
Weitere Infos zum Thema "Schwangerschaft und Esstörung" sowie Hilfe für Angehörige und Betroffene gibt es übrigens hier:
- Anad e. V., Tel. 089/2 19 97 30, www.anad.de
- Bundeszentrale für Gesundheitliche Aufklärung, Tel.: 0221/89 20 31, www.bzga.de
Eine Mutter erzählt von ihrer Schwangerschaft und ihrer Essstörung
"Mama, warum isst du nichts?" Vor dieser Frage hat Svenja Pohle (Name von der Redaktion geändert) Angst. Denn sie ist magersüchtig. Und die Krankheit macht den Familienalltag zur ständigen Gratwanderung! Hier berichtet sie von ihrer Schwangerschaft und ihrer Essstörung:
"Mitten in der Küche steht der Topf mit den Nudelresten vom Mittagessen, auch eine Schüssel mit Breiresten von Sara, dem fünf Monate alten Baby. Im Wohnzimmer ein Teller mit Lakritze und Gummibärchen zum Naschen. Es sieht so aus, wie es eben aussieht, wenn man kleine Kinder zu Hause hat. Svenja Pohle (38 Jahre), bringt Kekse zum Kaffee. Emil, der Zweijährige, stürzt sich drauf. Svenja hat nichts von den Nudeln gegessen, nichts von den Keksen, nicht von der Lakritze. Sie isst tagsüber nichts.
Svenja Pohle, groß, blond, hübsch, hat Magersucht, seit sie 15 war. Und sie ist einer der Menschen, die man gern zum Lächeln bringt, weil das so herzlich ist, dass man es immer wieder sehen möchte. So lächelt sie auch, wenn man sie nach ihrem Gewicht fragt. "Weiß ich nicht, ich wiege mich nicht. Ich will es nicht wissen." Man sieht auch so, dass Svenja wenig wiegt, zu wenig. Wenn ihr blaues T-Shirt verrutscht, ragt ein spitzer Knochen nach oben. Einer, den man bei Normalgewichtigen nicht sieht. In ihren Jeans kann man die Beine nur ahnen.
Und wie bei so vielen Magersüchtigen gibt es auch für ihre Essstörung mehrere Gründe: Svenja wollte so zierlich wie die vielen anderen Mädchen sein – die nicht zierlicher waren, sondern nur kleiner als sie. Die Bewunderung für die paar Kilo weniger nach den Sommerferien tat auch immer gut.
Dann stirbt die geliebte Oma, Svenjas Bezugs- und Schutzperson. Das Verhältnis zu ihr war immer einfacher als das zu den Eltern, die sich sehr häufig streiten. Wenn der Vater trinkt, hat er sich nicht im Griff, rastet aus, auch Svenja gegenüber. Ihr Selbstbewusstsein ist irgendwann am Boden.
'Plötzlich wurde das Hungern eine Möglichkeit, meine Eltern vom Streiten abzulenken', sagt sie. 'Mein Vater wollte sogar mit dem Trinken aufhören, wenn ich wieder normal esse.' Im Grunde ist es da schon zu spät. Nur abends zu essen ist zu Svenjas Muster geworden, die Beschäftigung mit dem Thema 'essen' oder besser 'nicht essen' lenkt sie ab, sie ist ihr Schutz. Der Schmerz des Hungerns übertönt andere Schmerzen. Und Svenja hat in ihrem jungen Leben, das bisher die Eltern mit ihren Problemen kontrollierten, endlich selbst etwas in der Hand: den eigenen Körper. Der Preis dafür ist hoch: Svenja fühlt sich unendlich dick - obwohl sie ihren Unterarm locker mit den Fingern einer Hand umfassen kann.
Es folgen Jahre der Therapien, der Besserungen, der Rückfälle. Ihr Lehramtsstudium bringt sie mit Bestnote zu Ende. Aber ihr Leben bleibt unstet - bis sie 2005 ihren Mann kennenlernt. 'Meine Gedanken kreisten einige Monate nicht ums Essen, sondern darum, ob er anruft - die beste Zeit meines Lebens', sagt Svenja. Das Paar zieht zusammen und plant Kinder.
Bei diesem Thema wirkt Svenja sehr entschlossen: 'Ich liebe Kinder, wollte immer welche haben. Unbedingt.' Doch nach einem Jahr Probieren muss sie erkennen: Ihr Körper ist vom Hungern so durcheinander, dass sie keinen Eisprung hat.
Svenja fühlt sich schuldig, wie so oft in ihrem Leben. Aber ihr Wunsch, Mutter zu werden, ist so groß, dass sie sucht, bis ein Arzt sich zu einer Hormontherapie bereit erklärt.
Mit der Schwangerschaft beginnt für Svenja die schlimmste und schönste Zeit ihres Lebens: 'Den Babybauch fand ich toll, sogar erotisch. Dieser Bauch hatte ja einen Sinn.' Aber es geht ihr nicht wirklich gut: 'Ich hatte solche Angst, das Baby zu verlieren, dass ich mich mehr denn je mit meiner Essstörung ablenkte. Sie ist meine Möglichkeit, mich nicht zu spüren. Eine Essstörung ist eigentlich eine kindische Krankheit. Man will sich hinter ihr verstecken und meint, so könne einen keiner finden, auch die Angst nicht.' So wie sie es sagt, klingt es, als würde sie über die Probleme einer Bekannten sprechen.
Das Hungern und die Abführmittel hinterlassen Spuren. Aber der ungeborene Emil soll nicht leiden. Dass es ihm gut geht, muss Svenja ständig sehen: Wie besessen lässt sie sich jede Woche unter Vorwänden ultraschallen. Bis Ärzte in der Klinik aufmerksam werden und sie zum Bleiben überreden.
Svenja trifft auf einen Mann, den sie den Arzt ihres Lebens nennt. 'Er ließ mich erzählen. Und sagte: ,Na, so dramatisch ist das nicht.‘ Das hat mich entlastet.' Doch der Arzt besteht darauf, dass Svenja jede Woche zur Kontrolle kommt.
Im siebten Monat will allerdings auch er die Verantwortung für Mutter und Kind nicht mehr übernehmen und überzeugt Svenja, sich künstlich ernähren zu lassen. 'Das Einlaufen der Kalorien war schlimm, aber nicht so schlimm wie sie selber zu essen.' Auch Svenjas Mann ist am Ende seiner Kräfte. Er hat Angst um Svenja und um Emil. Die Pohles beginnen eine Familientherapie - sie heilt Svenja nicht, aber beide verstehen die Probleme des jeweils anderen jetzt besser.
Emil kommt schließlich drei Wochen zu früh, aber gesund zur Welt. Svenja stillt, bemüht sich, abends genug zu essen. Das fremdbestimmte Leben mit Kind hilft ihr zunächst, ruhiger zu werden: 'Ich hatte noch in der Schwangerschaft täglich exzessiv Sport gemacht. Jetzt ging das nicht mehr - und das fühlte sich befreiend an. Es hat mich geerdet.'
Svenja wird ein knappes Jahr später, nach einer weiteren Hormontherapie, wieder schwanger. Ihre Tochter Sara kommt zehn Wochen zu früh auf die Welt - wahrscheinlich eine Infektion. Doch Svenja macht sich Vorwürfe. Und das entspannte Leben mit Emil gerät durcheinander: Sara ist unruhig, Svenja fühlt sich oft überfordert - wie jede zweifache Mutter.
Abends isst sie am liebsten ohne ihre Kinder, denn auf diese eine Mahlzeit am Tag lebt sie hin, die muss perfekt sein. Das Brot darf kein Körnchen zu viel haben, die Tomate braucht genau das richtige Rot. Dabei ist Svenja bewusst, dass gemeinsame Mahlzeiten für die Kinder immer wichtiger werden: 'Ich möchte meinen Kindern ein Vorbild sein, sie sollen durchs Leben gehen können, ohne Essen als Hilfe zu benutzen.'
Könnte nicht eine weitere Therapie helfen? Sie schüttelt den Kopf: 'Die Geschichte ist auserzählt. Ich selbst muss mutig genug sein, um meine Situation zu ändern.' Ihr Mann redet ihr gut zu - und drängt darauf, sich öfter mit den Kindern an den Tisch zu setzen. Er selbst kommt unter der Woche erst abends nach Hause, schafft es seit einiger Zeit aber immerhin, zum Essen mit den Kindern da zu sein.
Und wenn Svenjas Kinder eines Tages fragen, warum sie nichts isst? 'Dann werde ich ihnen wohl erklären, dass die Mama sich damit schwertut, so wie sie sich vielleicht mit was anderem schwertun. Dass Essen aber etwas Schönes ist und Kraft gibt und dass es nicht richtig ist, wie ich es mache.'
Svenja zögert: 'Ich wünsche mir ja selbst, sonntags mal ein richtiges Familienfrühstück zu machen. Oder gleich nach dem Backen den Kuchen zu probieren.' Sie lächelt. Zuversichtlich. Und ein wenig unsicher.
Schwangerschaft trotz Essstörung? Das sagt der Experte
Ein Gespräch über Schwangerschaft und Esstörung mit Dr. Ralph Kästner, Gynäkologe mit Schwerpunkt Psychosomatik und Suchtmedizin an der Frauenklinik der LMU München:
Kann eine essgestörte Frau überhaupt ohne medizinische Hilfe schwanger werden?
Für magersüchtige Frauen ist das sehr schwer. Es hängt natürlich davon ab, wie lange die Essstörung schon besteht: Alles Extreme hinterlässt irgendwann Spuren im Körper. Oft haben die Frauen keine Menstruation, keinen Eisprung. Das ist bei Bulimie nicht das Problem, aber auch da gerät der Körper durch den Wechsel von essen und sich übergeben durcheinander. Viele Magersüchtige brauchen eine Hormontherapie und künstliche Befruchtung. Hier fehlt es Medizinern oft an Sensibilität. Die Behandlung müsste deshalb mit einer Therapie verbunden sein.
Der Bauch wächst in der Schwangerschaft unaufhaltsam. Wie schlimm ist das für Betroffene?
Das lässt sich nicht verallgemeinern. Für die einen hat die Gewichtszunahme endlich eine Berechtigung. Die anderen sehen ihr Ideal, das Dünnbleiben, gefährdet. Dazu kommt, dass essgestörte Frauen sich ja oft der Erwachsenenrolle verweigern. Und nun soll man auch noch die Bedürfnisse eines Kindes erfüllen? Das bringt große Unsicherheit.
Wie riskant ist die Unterernährung für das Baby?
Nicht so gefährlich, wie man meinen könnte. Das Ungeborene holt sich alles, was es kriegen kann - und das reicht meistens. Das Problem sind die Frauen, die immer schwächer werden und sich oft bewusst haarscharf an einer Grenze entlang bewegen - sie haben das über Jahre eingeübt.
Wie helfen Sie Betroffenen?
Ich versuche, ihnen den Druck zu nehmen: Würde ich ihnen Angst machen, wäre das unehrlich und würde die Schuldgefühle verstärken. Und der Druck würde dazu führen, dass sie mich hintergehen. Vertrauen und Begleitung sind wichtiger - dann sind die Frauen eher bereit, etwas zu ändern und sich im Notfall künstlich ernähren zu lassen.
Wer begleitet die Frauen nach der Geburt?
Die Hebamme hat eine wichtige Kontrollfunktion: Bekommt das Baby genug oder zu viel? Essgestörte Frauen können das oft nicht einschätzen. Aber auch später sind Hilfe und Beobachtung wichtig, wenigstens von einer Freundin, die auch Kinder hat: Kinder ahmen das Essverhalten der Mutter irgendwann nach - und somit auch die Essstörung.