26. April
26. April der Countdown läuft! Ich freue mich so sehr, dass es nun bald geschafft ist. Mir und dem Baby geht es noch immer super. Letzte Woche hatte ich ein absolutes Stimmungstief, mit dem ich so kurz vor Schluss nicht mehr gerechnet hatte.
Aber plötzlich wird mir das Hin und Her der letzten Wochen einfach zu viel. Und auch die Aussagen der ersten Arztkonsultationen im letzten Jahr spucken mir immer wieder im Kopf herum.
Dort wurde ja gesagt, dass das Kind, sollten wir es wirklich bekommen, entstellt sein würde. Von einem riesigen Wasserkopf und verkrüppelten Beinen war die Rede. Die Hebammen reagieren sofort und umsorgen mich liebevoll. Die Ärztin zeigt mir in einem ausführlichen Ultraschall, dass hier niemand entstellt sein wird und legt mir ans Herz, die Aussagen der Ärzte ganz schnell zu vergessen.
Und Frau Garlichs, die Seelsorgerin, kommt auch noch zu mir und baut mich mit lieben Worten und einem "Schokoriegel-Kalender" wieder auf. Als es vor zwei Monaten hieß, ich müsste hier bleiben, überraschte sie mich mit einer Giraffen-Spieluhr. Ich hatte ihr mal erzählt, dass die Giraffe in der Schwangerschaft unser Krafttier geworden ist. So ein einfühlsames Team!
27. April
Gestern Abend um 18:54 kam unsere Rosalie mit 2820 Gramm und 48 cm per Notkaiserschnitt zur Welt. Ich hatte eine Blutung mit Frischblut und die Ärzte wollten nicht mehr warten. Mein Mann hat es leider nicht mehr geschafft, weil alles sehr schnell ging. Ich bin überglücklich und kann es noch gar nicht fassen. Rosalie musste übrigens nicht auf die Neonatologie, sondern durfte mit mir auf die Wochenbettstation.
29. April
Schon morgen darf ich das Wochenbett verlassen und Rosalie wird für die Abschlussuntersuchungen ins Kinderkrankenhaus verlegt. Dort ist auf der Neugeborenen-Station bereits ein Bettchen für sie reserviert. Steffen und Amalia sind da, wir wohnen dann in einem Elternzimmer, nur vier Minuten zu Fuß vom Kinderspital entfernt.
1. Mai
Nach 87 Tagen Bangen, Hoffen, Lachen und Weinen habe ich das Unispital Zürich verlassen! Rosalie liegt im Kinderspital. Es ist noch so unwirklich und ich weiß nicht, was ich fühlen soll. Ich habe Angst vor dem, was kommt. Vor dem, was die Ärzte uns sagen werden bei den Untersuchungen, vor den Wochen, in denen ich mein Baby jetzt allein im Krankenhaus lassen muss.
Heute haben Amalia und ich uns ein Eis in der Cafeteria geholt und es draußen auf einen Parkbank gegessen. DRAUSSEN! Ich war ganz überwältigt und habe gezittert, als wir durch die Tür gegangen sind.
3. Mai
Seit gestern laufen kontinuierlich die Untersuchungen. Ich habe ganz schön Muskelkater nach dem langen Liegen, die Muskeln kommen aber langsam wieder. Ansonsten fühle ich mich hin- und hergerissen. Ich möchte am liebsten den ganzen Tag bei Rosalie sein, aber Amalia braucht mich auch. Steffen und ich teilen uns die Zeiten auf. Wie gut, dass er da ist!
10. Mai
Alle Untersuchungen sind durch. Der Kopf sieht gut aus – zumindest jetzt braucht sie keinen „Shunt“, ein Ventil, mit dem das Gehirnwasser abfließt, damit sich kein Wasserkopf (Hydrocephalus) entwickelt. Ob das so bleibt, wissen wir nicht: Die Ärzte haben uns gesagt, dass sich jeder Befund bei Rosalie noch verbessern und verschlechtern kann. Erst um den 2. Geburtstag herum können wir ganz sicher sein, dass die Gefahr eines Wasserkopfes gebannt ist.
Die Blase ist auch in Ordnung und funktioniert, wie sie soll. Rosalie hat eine kräftige Hüfte und kräftige Knie.
Ansonsten hat sie eine Muskelschwäche in den Waden und eine Fußfehlstellung: Der linke Fuß ist ein Klumpfuß, der seit letzter Woche gegipst wird. Und rechts ist ein Hackenfuß, der mit einem abnehmbaren Gipsschienchen versorgt wurde. Alles in allem sind das tolle Ergebnisse!
Wir dürfen nur erst mal nicht nach Hause, weil sie immer noch Sauerstoff-Sättigungsabfälle hat. Wenn die Sauerstoff-Sättigung über 48 Stunden stabil ist, können wir heim. Ich hatte mich schon so darauf gefreut endlich nach Hause zu können! Nun heißt es wieder warten.
12. Mai
Ich merke, dass ich so langsam einfach nicht mehr kann. Gestern hat mir auf der Neugeborenenstation der Kreislauf versagt, während mir die Physiotherapeutin die Übungen für Rosalie gezeigt hat. Außerdem habe ich ständig Magenkrämpfe und hin und wieder Erkältungsanzeichen. Der Körper beginnt also, auf den Stress der letzten Monate zu reagieren. Ich hoffe so, so sehr, dass ich Rosalie bald komplett wie jede andere Mama auch genießen kann!
18. Mai
Heute durften wir endlich nach Hause! Die letzten Tage in Zürich waren eine Herausforderung. Ich wollte Amalia wieder eine Mama sein und ein halbwegs normales Zusammensein ermöglichen. Andererseits wollte ich mir Rosalie im Krankenhaus auf den Bauch legen und ihr helfen, sich zu erholen. Es fiel mir jeden Tag schwerer, Rosalie im Krankenhaus zurück zu lassen. Auch medizinisch war es nochmal ein Auf und Ab. Rosalie wurde untersucht, und jedes Mal war es ein Bangen, wenn die Ärzte nach den Untersuchungen auf uns zukamen, um uns die Ergebnisse mitzuteilen. Aber momentan sieht alles bis auf die Fußfehlstellung gut aus.
Nachwort
Wir sind nun seit ein paar Tagen zu Hause und mein Herz ist voller Liebe. Im Kinderkrankenhaus musste ich noch ein letztes Mal funktionieren und bin emotional auf eine Art " Sicherheitsabstand" gegangen. Das war notwendig, um die Kraft aufzubringen, Rosalie Abend für Abend in der Klinik zurückzulassen.
Aber nun sehe ich sie an, wie sie in ihrer Wiege schläft, und denke nur "Sie ist perfekt".
Rückblickend kann ich sagen, dass jede Familie für sich entscheiden muss, welchen Weg sie einschlägt. Für uns war und ist dieser der Richtige. Ich konnte mir nicht vorstellen, wie es wohl sein wird, wenn ich meine Mutterliebe auf zwei Kinder aufteilen muss. Aber meine Liebe hat sich einfach verdoppelt. Und auch zu Hause hat Rosalie die Herzen aller im Sturm erobert. Niemand guckt in den Wagen und sieht ein Baby, das viel durchgemacht hat und dass bereits in der 25. Schwangerschaftswoche operiert worden ist. Sondern sie sehen einfach ein strampelndes Baby, in dessen wache Augen man blickt. Und wann immer ich in ihre Augen sehe, finde ich, dass Rosalie einen sehr wissenden und weisen Blick hat.
Wir wissen nicht, wohin die Reise mit Rosalie noch führen wird, aber wir wissen: Sie ist bei uns! Und egal, was für Diagnosen wir für Rosalie bei den Kontrollen noch erhalten werden, wir werden sagen: "Spina Bifida hat sich mit der falschen Familie angelegt!"
Für alle, die noch nicht die ganze Geschichte kennen - den Anfang des Tagebuchs gibt es hier: 1. Teil: Die Diagnose. Und die Frage, ob eine riskante OP helfen kann
In welchen Fällen eine Spina Bifida-Operation im offenen Mutterleib infrage kommt und wie sie abläuft, könnt Ihr im Interview mit dem Operateur Prof. Dr. med. Martin Meuli nachlesen.